Mein wohl persönlichster Beitrag

von | Mrz 10, 2020 | Blog | 0 Kommentare

Geschrieben am 16.02.2020, ergänzt mit Tagebucheinträgen.

Heute war ich das erste mal seit sehr langer Zeit alleine zu Haus bei meinen Großeltern, und so auch das erste mal alleine mit meiner Oma spazieren.

Und da kam er, der Satz: „Das mit Tim hätte nicht sein müssen oder? Das mit Tim tut deinen Eltern gscheid weh oder.“

Tim, mein kleiner Bruder, der sich im August 2015 mit 24 Jahren das Leben nahm.

Suizid. Freitod. Aus freiem Willen. Sein Leben freiwillig beendet. Nachts in seiner Wohnung.

Warum? Warum.

Ein Tag, der verändert. Alles. Mich.

Wo fängt man an bei Suizid?

Die Trauer vermischt sich mit Schuldgefühlen. Mit den Fragen nach dem Warum. Mit der Suche bei sich, ob man nicht etwas bemerken hätte müssen. Der Suche nach Gründen. Der Suche nach Schuldigen.

Sich als Opfer fühlen.

Sich als Täter fühlen.

Sich hilflos fühlen.

Sich verantwortlich fühlen.

Die Angst verurteilt zu werden.

Die Frage, warum es Suizid sein musste und nicht ein natürlicher Tod. Ein Tod, beim dem man einfach nur trauern darf. Ein Tod, ohne bitteren Beigeschmack.

Suizid, ein Thema über das viel zu wenig geredet wird. Doch ich stelle fest, ich bin nicht alleine.

Da ist die Freundin aus der Grundschule, deren Bruder sich vor den Zug geworfen hat. Der Onkel einer Freundin, der sich aus dem Fenster gestürzt hat, die Kommilitonin, die eine Überdosis Schlaftabletten genommen hat.

Das Internet sagt dazu:

„Circa 800.000 Menschen nehmen sich weltweit pro Jahr das Leben – demnach begeht im Durchschnitt alle 40 Sekunden eine Person Selbstmord. 10 000 Menschen in Deutschland.“ [onmeda]

„Es sterben fast dreimal so viele Menschen durch Selbstmord wie an einem Verkehrsunfall.“ [onmeda]

„In Deutschland sterben mehr Menschen durch Selbsttötung als durch Verkehrsunfälle, Drogenmissbrauch, Aids und Mord. Und zwar zusammengerechnet. Männer legen etwa dreimal so häufig Hand an sich wie Frauen.“ [BR24]

„Etwa zehn Prozent der Menschen, die ihr Leben beendeten, waren jünger als 30 Jahre.

Die Suizidrate in Deutschland ist zwar seit den 1980er Jahren gesunken, hält sich aber seit Jahren auf konstant hohem Niveau.“ [BR24]

„Jährlich sterben in Deutschland etwa 11.000 Menschen durch Suizid. Man geht davon aus, dass sich etwa zehn- bis vierzigmal so viele Suizidversuche ereignen. Suizid ist die zweithäufigste Todesursache bei jungen Menschen unter 25 Jahren.“ [BR24]

Mein Bruder, der Charmeur, Sunnyboy, begnadeter Fußballer, beliebt. Immer ein Lächeln im Gesicht. Immer einen flotten Spruch auf den Lippen.

Doch auch, wenn ich so darüber nachdenke, auf der Suche.

Auf der Suche nach Liebe und Erfüllung. Im Beruf, in der Beziehung, im Leben.

Der Schmerz unermesslich.

Die Tiefe der Seele unergründlich.

Das Spiel des Lebens geht weiter. In all seinen Farben.

Die ersten Wochen war ich gefasst, gar in einer kreativen Hochphase.

Ich erklärte mir alles auf spirituelle Weise, höherer Sinn, Lebensplan und so.

Auch war da ganz viel Verständnis.

Verständnis, da ich lange Zeit selbst oft immer wieder tiefe Leere und Traurigkeit in mir verspürte und ich nachvollziehen konnte, wenn jemand so fühlen sollte, dass es schwierig ist, standzuhalten und den Glauben an das Leben nicht zu verlieren.

Die Phasen des Verständnisses wechselten sich mit Phasen des tiefen Schmerzes ab.

Dieser Schmerz.

Meine Seele zerrissen.

Voller Schmerz. Nicht ganz.

Ich friere. Ich zittere.

Ich bin leer. Erschöpft.

Jedes bisschen Kraft schein aus meinem Körper zu sein.

Jedes bisschen Freude ist gewichen.

Nur ein Funken Wille.

Wille zu bleiben.

Lass den Schmerz sich verwandeln in Liebe.

Erst viel später kam die Wut. Die Wut, die sich bereits auf körperlicher Ebene abzeichnete und mir die Luft zum Atmen nahm.

Schwere. Schmerz. Leere. Wachstum. Dankbarkeit. Freude. Leben. Unverständnis. Lethargie.

Liebe. Wut. Zuversicht. Leichtigkeit. Frieden.

In Zeiten der Trauer darf alles sein. Alles.

Wieder zurück im „Alltag“ holen mich gewöhnliche Fragen ein.

„Wieviele Geschwister hast du?“

Was soll ich darauf antworten? Eigentlich zwei Brüder, aber jetzt nur noch einen. Oder gleich „nur einen“, aber das würde sich nicht richtig anfühlen. Ist es doch ein Unterschied, ob man zu Zweit oder zu Dritt aufgewachsen ist.

Wie geht man mit der eigenen Geschichte um? Wie sehr soll man sie nach außen kommunizieren, wie ins Leben integrieren?

Fragen an das eigenen Leben kommen auf.

Was verstehe ich in diesem Leben nicht?

Was muss ich lernen?

 

Fragen, die mich beschäftigen. Malend im Wintergarten meiner Eltern. Hier ist immer eine besondere Energie. Hier entstehen meine Bilder mit einer Leichtigkeit. Eine Leichtigkeit, die ich an anderen Orten nur selten verspüre.

Und nun tat ich etwas, was mich noch heute beseelt. Halb im Spaß, halb aus Verzweiflung und Wut, sprach ich zu meinem Bruder.

„Mal doch mit mir. Komm schon.“

Und ich spürte seine Anwesenheit.

Kontakt mit Verstorbenen. Nie habe ich dies in Frage gestellt, da ich schon zuvor tief in die geistige Welt eingetaucht bin. Schon immer glaubte ich daran, dass es mehr als nur das für unser Auge sichtbare gibt. Etwas Größeres, Mächtigeres. Ohne es genau zu definieren. Etwas Göttliches, ohne es als Gott benennen zu wollen.

 

Glaube.

An Gott. An das Leben.

Unendlicher Glaube. Vertrauen.

Ich habe nie verstanden, wie Menschen, die einen geliebten Menschen verloren haben, noch glauben können. Glauben an das Leben, an Gott. Doch oft finden Menschen gerade dadurch zurück zum Glauben, und dass stärker und intensiver als zuvor.

Wie kann man noch an einen Gott glauben, der sowas zulässt? Gott, wer oder was ist das schon?

An was glauben, was man nicht sieht, was nicht existent ist?

Mein Bruder ist nicht mehr da, und doch präsenter als je zuvor. Ich kann es nicht erklären, aber ich fühle mich mit ihm weit über die körperliche Ebene verbunden.

Ich führe oft Gespräche mit ihm und war mir nicht sicher, ob mich mein Unterbewusstsein austrickst. Ob ich nur mit mir selber rede und ich mir aber einbilde, dass er es ist. Möglich. Und doch weiß ich, dass es nicht so ist.

Dieser Schmerz ist nicht meiner – wie oft hatte ich selbst das Gefühl, weiß noch wie ich als Kind im Flur stand und zu meinen Eltern sagte, dass mir das Atmen weh tut. Nicht körperlich, sondern irgendwie anders. Als Kind.

Dieser Schmerz ist nicht meiner – der Titel des Buches von Marc Wolynn, das mir vor einem Jahr in die Hände fiel. Es beschäftigt sich mit dem familiären Erbe.

Gefühle, Traumata, Leiden der Eltern, die an die nächste Generation weitervererbt werden. Klingt spooky? Vielleicht im ersten Moment, aber für mich persönlich macht es sehr viel Sinn. Mit wievielen Menschen habe ich schon gesprochen, die grundlos traurig sind, Gefühle und Schmerzen spüren, für die es keine Erklärung gibt.

Und muss ich ehrlicherweise ergänzen – auch, wenn es mir sehr schwer fällt – dass es Suizid in der 3. Generation war. Immer die gleiche Ahnenreihe, immer Männer.

Ja das familiäre Erbe, das wohl jeder mit sich rumträgt. Mehr und weniger belastend.

Aber es bringt mich auch wieder zurück zum Verständnis. Und dahin meinem Bruder keine Vorwürfe zu machen, dass er irgendwie selbstlos gehandelt hat. Nur tiefes Mitgefühl und Traurigkeit, dieses familiäre Erbe nicht längst aufgelöst zu haben.

Für mich gibt es so viel mehr „Unerklärbares“, dass die Entscheidung meines Bruders leichter macht.

So viel mehr, um in einen kurzen Satz zu antworten.

Das Schöne ist, zu wissen und zu spüren, dass keine Seele hier in diesem Universum verloren geht und sich wohl jede ihre Lernerfarhrung und die dazu passende Familie aussucht.

Schmerz überall. In den Blicken. Im Herzen. Gebrochen.

Liebe. Im Handeln. Tröstende Worte. Eine Umarmung. Halt.

Halt, wo kein Halt ist.

Stärke. Kraft. Leere. Unsägliche Leere.

Ein Zuhause gefüllt mit Traurigkeit. Schwere.

Ein Zuhause, das eine Zeit nur vor und nach dem Tod kennt.

Ein Zuhause, das nie wieder Unbeschwertheit und Leichtigkeit verspricht.

Eltern, die alles für ihre Kinder tun würden. Eltern, die alles für ihr Kind getan hätten.

Eltern, deren Seelen getrübt sind. Ein Leben lang.

Schwarz.

Hoffnung.

Liebe.

Ein kleines Licht.

Wir können uns mit dem Warum quälen. Oder wir können uns sagen, jetzt erst recht.

Jetzt erst recht will ich mehr vom Leben. Will ich alles vom Leben.

Will ich Heilung in die Welt bringen.

„Für jemanden der selbst ins Jenseits geht, ist das Jenseits niemals ein Tod. Es wird zu einem Willkommen. Denn wenn du das Jenseits willkommen heißt, heißt es auch dich willkommen. Das Jenseits ist stets ein Echo.“ Osho

Keiner sagt, dass es leicht ist. Aber sich mit Fragen zu quälen auf die es keine Antworten gibt, ist nicht besser.

Alles Liebe, deine Isabel

Ich hoffe, dieser Artikel ist nicht zu abschreckend, wenn man sich mit gewissen Themen noch nicht auseinandergesetzt hat. Gerne schreibe mir, wenn Fragen aufkommen!

Wenn meine Worte mit dir in Resonanz gehen, kannst du ja mal in dich spüren, welche Gefühle, Gedanken oder Erinnerungen du hast, wo du der Meinung bist, dass sie nichts mit dir, deinem jetztigen Leben zu tun haben. Und im nächsten Schritt vielleicht mal in deiner Familiengeschichte forschen. Es heißt, dass bestimmte Themen bis zu 7 Generationen weitergegeben werden.

Buchempfehlungen:

„Dieser Schmerz ist nicht meiner: Wie wir uns mit dem seelischen Erbe unserer Familie aussöhnen“ von Marc Wolynn

„Dieser Schmerz zerreist mir fast das Herz: Trauern als Weg“ von Diana Mirtschink

„Ein Teil von mir: Meine Trauer umarmen und weiterleben“ von Silke Szymura

Quellen:

https://www.onmeda.de/psychische_erkrankungen/selbstmord-daten-%26-fakten-15782-3.html)

https://www.br.de/nachrichten/wissen/welt-suizid-praeventionstag-zahlen-und-fakten-ueber-selbstmord,RbamfIO)

Anmerkungen: Bei den Buchempfehlungen handelt es sich um unbeauftragte und unbezahlte Werbung.